Expeditionsziel Erde

 

Gesellschaftstreffen auf Wolke Sieben. Luise beeilt sich, um noch einen guten Platz zu ergattern. Die vorderen Reihen sind immer sehr begehrt, denn von dort aus  bekommt man am meisten mit. Es hat sich bewährt, die Gesellschaftstreffen in die frühen Morgenstunden zwischen drei und fünf Uhr zu legen, dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist es eine attraktive Ankunftszeit für alle, die sich auf dem Rückweg von der Erde in den Himmel befinden, zum anderen können zu dieser Zeit auch die Tagesschutzengel noch problemlos an den Treffen teilnehmen, da die meisten von ihnen ihre Arbeit erst kurz vor sechs Uhr aufnehmen.

 

Luise ist aufgeregt. Welche Geschichten wohl heute wieder erzählt werden würden? Natürlich hat sie schon eine Vorstellung von der Erde – alle Reiserückkehrer erzählen schließlich in den schillerndsten Farben von diesem Planeten – aber kein Bericht gleicht dem anderen, jede Schilderung zeigte die Erde in einem anderen Licht. Luise fragt sich, wie ein und derselbe Planet so viele verschiedene Seiten haben kann!

 

Etwas Sorge bereiten ihr die neuesten Berichte, aus denen zweifelsfrei hervorgeht, dass die Qualität der Erde unter der nachlässigen Behandlung mancher Einwohner bereits Spuren der Veränderung zeigt. Wenn sie die ganze Fülle der Erde in ihren schönsten Farben noch erleben will, dann muss sie sich recht bald auf die Reise begeben, bevor noch mehr von der Erde zerstört werden würde.

 

Eigentlich ist sie schon seit einer Weile reisefertig.Sie weiß aus den Geschichten und Erfahrungsberichten der anderen, dass eine Expedition zur Erde nicht ganz ungefährlich ist, und sie ist sich auch völlig darüber im Klaren, dass sie sowohl für die Dauer ihres Aufenthaltes, als auch für die Hin- und Rückreise viel Kraft brauchen wird. Doch das hält sie nicht wirklich ab von der Reise.

 

Nein, der Grund für ihr Zögern ist ganz anderer Natur: Luise liebt die Einheit! Mit jedem und allem in Liebe verbunden zu sein, das ist einfach himmlisch, und die Einheit in dieser extrem hohen und gleichzeitig auf ewig beständigen Schwingungsqualität gibt es eben bisher   nur hier oben im Himmel. Sobald man sich auf die Erde begibt, muss man sich unweigerlich dem Gesetz der Polarität beugen. Das geht nun einmal nicht anders: Um Erfahrungen zu machen braucht man mindestens zwei Pole. Will man zum Beispiel herausbekommen, wie sich das Gefühl gut anfühlt, dann muss man in irgendeiner Situation auch die Emotion schlecht erfahren, denn ohne die Kenntnis des Gegenpols ist es nicht möglich, gut als gut und schlecht als schlecht zu erkennen.  

 

Aus den vorliegenden Reiseberichten der anderen wird  unmissverständlich klar, dass man das Gefühl der Einheit im Herzen zwar ohne weiteres auf die Reise zur Erde mitnehmen kann, doch im Trubel eines Erdenlebens  kann es leicht passieren, dass das Gefühl der Einheit verloren geht. Trotz der damit verbundenen Mühen soll die Einheit jedoch immer wieder aufs Neue gesucht werden. Natürlich gibt es auch auf der Erde jede Menge Gelegenheiten, die vollkommene Einheit, zumindest zeitweise, zu erleben, aber oft ist es ein schwieriges Unterfangen, welches viel Mut und Ausdauer verlangt, und vor allem: Urvertrauen.

 

Urvertrauen ist eine der Direktleitungen zur himmlischen Quelle. Im Notfall kann man zu jeder Zeit dort anrufen und eine Portion Soforthilfe bestellen. Die Hotline ist  Tag und Nacht für eingehende Anrufe freigeschaltet. Notfallengel sind jederzeit einsatzbereit, sie müssen aber ausdrücklich angefordert werden, denn sie mischen sich niemals in Lebenssituationen ein, ohne zuvor dazu explizit aufgefordert worden zu sein. Der Bestellvorgang ist formlos und denkbar einfach: Ein kurzes Stoßgebet genügt, und schon ist rettende Hilfe unterwegs.

 

Eine kleine Schwierigkeit scheint es dennoch zu geben, wenn man den Erfahrungsberichten Glauben schenken will. Es wird zwar in jedem Fall unverzüglich nach Eingang der Bestellung Hilfe geschickt, aber, und das scheint ein echter Schwachpunkt zu sein: als Mensch erkennt man sie oft nicht direkt. Manchmal nimmt man sie erst im Nachhinein wahr, manchmal sogar erst, wenn man wieder zurück auf Wolke Sieben ist. In Härtefällen kann es sogar vorkommen, dass man als Mensch denkt, die da oben hätten einen gänzlich vergessen.

 

Für diese Fälle ist ein extra Callcenter gegründet worden, welches Beschwerden aller Art entgegennimmt. Die Mitarbeiter im himmlischen Callcenter müssen sich so einiges anhören, aber, spätestens wenn die Reisenden  von der Erde aus wieder wohlbehalten auf Wolke Sieben zurückgekehrt sind, wird bei Erfahrungsaustauschtreffen über so manche Geschichte gemeinsam herzhaft gelacht. Es scheint eine nicht zu umgehende Begleiterscheinung zu sein, dass man sich als Reisender auf der Erde viele seiner himmlischen Qualitäten neu erarbeiten muss,  aber: dafür tritt man die Reise ja schließlich an, um diese Qualitäten nicht nur zu besitzen, sondern noch einmal so richtig hautnah zu erLEBEN. Schade nur, dass man das während der einzelnen Exkursionen so häufig vergisst!

 

Wie dem auch sei, Luise ist fest entschlossen, die Reise zur Erde zu wagen, sie ist einfach zu neugierig darauf, wie sich bestimmte Erfahrungen anfühlen. Sie möchte vieles erforschen, also wird sie als Forscherin reisen.  Sie will jede Menge Expeditionen unternehmen, sie will die Menschen und die Natur in all ihren Qualitäten und Polaritäten kennen lernen, sie will die Schätze des Erdenlebens entdecken. Ja: Luise will Schatzsucherin sein! Und, unbescheiden wie sie nun einmal ist, entschließt sie sich beherzt dazu, ein Megastar in der Schatzsucherszene zu werden - wenn schon, denn schon!

 

Als allererstes muss sie ein gutes Basiscamp ausfindig machen, von welchem aus sie ihre Forschungsreisen bestmöglich planen und durchführen kann. Jetzt, wo  die Expedition Erde wirklich konkret für sie wird, ist Luise doch ein wenig ängstlich. Doch gerade dann,  als sie droht, wankelmütig zu werden, gerade dann entdeckt sie auf der Erde das perfekte Basiscamp für ihre Zwecke: eine glückliche Familie. Ja, ganz genau hier wird Luise ihre Basisstation aufbauen. Hier stehen ihr alle Möglichkeiten offen, um sich zu entwickeln und   ihre Forschungsreisen gut vorzubereiten. Das Camp wird von zwei ganz besonderen Charakteren, die  auf die Bezeichnung Eltern hören, liebevoll und überaus kompetent geleitet. Und das Allerbeste:  Susanne und Maria, Luises engste Seelenschwestern, haben in genau diesem Camp bereits Quartier bezogen. Das ist einfach perfekt!

 

Jetzt ist Luise nicht mehr zu halten. Ganz ohne Gepäck macht sie sich auf zu ihrem vielleicht größten Abenteuer: sie wird die Erde und ihre Bewohner in all ihrer Vielfalt entdecken. Sie wird mit Haut und Haar selbst ein Teil dieser einzigartigen Lebendigkeit werden, denn nur  durch den unmittelbaren Kontakt zu Mensch und Erde hat sie die Möglichkeit, verborgene Schätze aufzuspüren. Und dass die Erde und die Menschen in ihrer Einzigartigkeit voller Schätze stecken, das hat sie ja bereits von Wolke Sieben aus in aller Seelenruhe beobachten können.    

 

Die Ankunft auf der Erde ist etwas schmerzhaft. Irgendwie scheint das Klima hier unten viel rauer zu  sein als oben auf Wolke Sieben. Luise muss sich erst  an die Temperaturunterschiede gewöhnen, und an das  oft hektische Tempo, die hohe Lautstärke und die schwankenden Lichtverhältnisse. Am meisten vermisst sie es, dass sie sich hier nicht  mehr – wie gewohnt - Kraft ihrer Gedanken fortbewegen kann. Alles muss  sie neu lernen, selbst das Laufen! Aber: Sie wird es meistern, sie ist guter Dinge! Schließlich sind gute  körperliche und geistige Beweglichkeit überaus wichtige Grundvoraussetzungen für alle Schatzsucher, die als funkelnde Megastars in der Schatzsucherszene glänzen wollen. Und eins  ist jetzt schon sonnenklar: Luise will erfolgreich sein!

 

Neugierig fragt sie sich, welchen Schatz sie wohl zuerst entdecken wird. Natürlich hat sie im Camp schon unzählige Schätze erhalten, die meisten davon musste   sie nicht einmal suchen, sie wurden ihr einfach so geschenkt – aus Liebe in Liebe. Doch Luise weiß, dass es außerhalb des schützenden Camps noch Vieles zu entdecken gibt. Sie muss los, je eher sie losgeht,  desto mehr Zeit steht ihr für jede einzelne Expedition   zur Verfügung. Und: Je mehr Zeit sie hat, desto größer  ist ihre Chance, viele verborgene Schätze zu entdecken.

 

Um sich überhaupt erst einmal zurechtzufinden, beschließt sie, ihre erste Forschungsreise in die Natur zu machen. In der Natur gibt es jede Menge Wunder. Allein schon die Bäume halten haufenweise Schätze für die Menschen bereit, man muss sich nur ein wenig Zeit nehmen, um ihnen zuzuhören …

 

 

Sabine Gehlen:

Luise im Glück - Expeditionen zu den Schätzen des Lebens

ISBN: 978-3-7322-4862-9